30.05.2011
VON MARTIN SCHREIER
Abwechslungsreich, bunt, laut - aber auch mit leisen Tönen - präsentierte sich am Wochenende das siebte Bücherfest in Tübingen.
Längst ist es zu einer festen Institution geworden, die namhafte internationale Autoren ebenso in die Universitätsstadt lockt wie Antiquare und leselustige Besucher. Von Freitag bis Sonntag,
zwischen Landgericht und Platanenallee, drehte sich fast alles um gedruckte Buchstaben
Leitwort. »Unterwegs« ist das Leitwort des diesjährigen Bücherfests. Statt vom Unterwegssein vorzulesen, wie etwa Roger Willemsen, nimmt Maria Salzmann das »Unterwegs« ganz
wörtlich. Sie ist als Lotte Zimmer in der Tübinger Altstadt auf den Beinen und stellt sich den Zuhörern als Pflegerin von Hölderlin vor. Im breitesten Schwäbisch erzählt sie von Hölderlins Liebe
zur Diotima und liest unter anderem das gleichnamige Gedicht vor. »Ich wollte es auswendig lernen. Aber Hölderlin kann man nicht auswendig lernen«, sagt Lotte Zimmer - vielleicht aber auch Maria
Salzmann.
Ungarn. Es ist gängige Praxis, dass sich das Bücherfest schwerpunktmäßig einem europäischen Land widmet. In diesem Jahr ist es Ungarn. Zweisprachige Lesungen und eine
Informations- und Diskussionsveranstaltung des LTT bringen den Besuchern das Land nahe. Wer jedoch etwas Ungarisches jenseits von Büchern und Autoren erwartet hatte, wurde enttäuscht. Gulasch?
Salami? Palatschinken? Fehlanzeige. Menschenrechte. Um Literatur und Menschenrechte sollte es im Gespräch zwischen der frühen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin und der
ungarischen Philosophin Ágnes Heller gehen. Moderator Jürgen Wertheimer stellt Heller als Frau vor, die dreieinhalb totalitäre Regime erlebt habe. Mit dem Halbtotalitären war offenbar die
ungarische Regierung mit ihrem Pressefreiheit einschränkenden Mediengesetz gemeint. Heller reagiert darauf weniger als streitbare Verfechterin der Menschenrechte, sondern relativierend. Zwar
bezeichnet sie die ungarische Regierung als bon-apartistisch und gibt zu, dass die Pressefreiheit durch das Mediengesetz limitiert sei. Sie betont aber, dass davon nicht die Freiheit der
Schriftsteller betroffen sei. Die Linke sei in ihrem Land in einer Krise und als Gegenkraft zur Regierung durch Uneinigkeit geschwächt.
Widersprüchlich. Studentin Jennifer Six macht sich für Printprodukte stark. Zusammen mit Cindy Ruch hat sie das studentische Literaturmagazin »Lautschrift« herausgegeben. »Wir
wollen, dass Texte wieder in Büchern gelesen werden und nicht nur schnell am Computer«, sagt sie. Um ihr Anliegen zu unterstreichen, hat sie neben dem Stand mit dem Magazin eine Schreibmaschine
aufgestellt. Daran klebt ein Zettel mit der Aufschrift: »Geschichten werden überall geschrieben. Auch hier. Einfach hinsetzen und los tippen.« Die 13-jährige Marie Lohbeck tippt ihr Gedicht mit
dem Titel »Titellos« aufs Papier. Die Texte sollen ausgerechnet im Internet-Blog zum Bücherfest veröffentlicht werden. Und der wird auch noch von den Machern von »Lautschrift« betrieben, die sich
doch für Printprodukte einsetzen wollen.
Antiquitätenhändler. Aus Berlin ist Christoph Neumann angereist. Nein, sagt er, zu viel Aufwand sei das nicht. Ein Antiquitätenhändler aus Ludwigsburg müsse doch genauso
Bücherkisten schleppen wie er, nur dass dieser fünf Stunden weniger für die Fahrt braucht. »Ich freue mich, hier Kollegen wiederzusehen.« Neben alten Büchern bietet er auch Grafiken an.
Leseorte. Vom geschützten Innenhof des Bürgerheims oder des Pfleghofs bis hin zum Rathaus eignet sich alles, um vorzulesen oder sich vorlesen zu lassen. Etwas Besonderes sind
jedoch Orte wie das Tübinger Landgericht. Wo werktags Kriminelle verurteilt werden, ist diesmal literarischer Mord und Totschlag angesagt. Etwa Autoren wie Petra Hartlieb und Claus-Ulrich
Bielefeld, die aus ihrem Krimi lesen. Und auf dem Neckar geht ein Mensch über Bord - allerdings nur im Text der Mähringer Autorin Anke Laufer, die auf dem Stocherkahn liest.
Nachtschicht. Die Dämmerung hat sich über Tübingen gesenkt, als am Samstag um 21.30 Uhr die letzte Lesung beginnt. Hinter der Stiftskirche trägt der Tübinger Autor Klemens Ludwig aus »Die Schwarze Hofmannin« vor, ein Roman um die Leibeigene Margarete zur Zeit der Bauernkriege im 16. Jahrhundert. Den Zuhörern kriecht die Abendkühle
in die Glieder. Einige suchen Wärme unter Jacken, andere beim Sitznachbarn. Auf dem Holzmarkt stehen die leeren Marktstände der Antiquitätenhändler wie Skelette in der Nacht. (GEA)