Muslime müssen Freiheit zur Provokation hinnehmen

Provokationen gegenüber Autoritäten sind unverzichtbar für eine lebendige Gesellschaft und Kultur. Ohne Provokation gibt es kein neues Denken. Deshalb darf es auch keine Ausnahme für Muslime geben. Von Klemens Ludwig

 

Der skurrile Streit zwischen den Salafisten und Pro NRW, die sich in ihrer Gier nach Aufmerksamkeit geradezu bedingen, verweist auf eine tiefere Kontroverse: Wie viel Provokation darf gerade in religiösen Angelegenheiten sein? Darauf haben viele Meinungsführer eine eindeutige Antwort. Der im vergangenen Dezember verstorbene Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter meinte: "Der Westen sollte alle Provokationen unterlassen, die Gefühle von Erniedrigung und Demütigung hervorrufen. Wir sollten die kulturelle Identität der islamischen Länder mehr achten."

Ganz ähnlich sieht es der Schriftsteller Günter Grass, der über die Mohammed-Karikaturen urteilte: "Es handelt sich um eine bewusste und geplante Provokation eines rechtsgerichteten dänischen Blattes. Die Journalisten haben gewusst, dass die Darstellung Allahs oder Mohammeds in der islamischen Welt nicht zulässig ist. Sie haben ganz bewusst gegen dieses Tabu verstoßen, weil sie rechtsradikal und fremdenfeindlich sind."

Oder die Stimme des Fachjournalisten Reinold E. Thiel: "Wie man mit der Religion umgeht, vor allem mit der anderer Menschen, ist nicht allein Geschmackssache. Angriffe gegen Werte und Überzeugungen, die religiös verankert sind, können die Gefühle bestimmter Bevölkerungsgruppen verletzten. Es gibt kein Recht, andere zu provozieren."

 

Katholiken werden ständig provoziert

 

Das sind keine Einzelstimmen, sondern ein Chor, der sich beliebig erweitern ließe. Einflussreiche Vertreter des öffentlichen Lebens, die gewöhnlich für Meinungsfreiheit und Toleranz einstehen und dabei bisweilen selbst zu Provokationen greifen, halten selbige für illegitim, ja für rassistisch, wenn es um den Islam geht.

Denkt man diese Argumentation zu Ende, kommt man zu bemerkenswerten Konsequenzen: Rolf Hochhuth hat mit seinem Theaterstück "Der Stellvertreter" Millionen gläubiger Katholiken zutiefst beleidigt und provoziert. In dem "christlichen Trauerspiel" wirft der Dramatiker Papst Pius XII. vor, durch sein Schweigen den Holocaust begünstigt zu haben.

Hätte das Stück mit Rücksicht auf die katholischen Befindlichkeiten nie aufgeführt werden dürfen? Hätte Hochhuth gar mit Schreibverbot belegt werden müssen? Ähnliches gilt für Heinrich Böll. Mit seiner lebenslangen kirchenkritischen Auseinandersetzung in Werken wie "Und sagte kein einziges Wort" oder "Ansichten eines Clowns" war er für viele Katholiken eine ständige Provokation. Also, Zensur für Böll und Entfernung seiner Texte aus den Schulbüchern?

 

Debatte verzerrt die Realität

 

Zu den besonderen literarischen Provokationen zählt auch Nikos Kazantzakis verfilmter Roman "Die letzte Versuchung Jesu Christi", in dem Jesus als Zweifler dargestellt wird, der auch vor sexuellen Verführungen nicht gefeit ist. Überhaupt zieht sich eine provokative Auseinandersetzung mit dem Christentum wie ein roter Faden seit der Aufklärung durch die abendländische Kultur.

Von Voltaire und Kant über Nietzsche bis zu heutigen Autoren wie Karlheinz Deschner und Andreas Altmann mussten sich die Gläubigen immer wieder Provokationen und Verunglimpfungen ihrer Religion gefallen lassen. Dennoch erweckt die Debatte häufig den Eindruck, als seien nur die Muslime Provokationen und Beleidigungen einer gewissenlosen Eventgesellschaft ausgesetzt. Dem ist mitnichten so, was auch der Blick über Europa hinaus zeigt.

Alle Religionen sind davon betroffen, und dabei handelt es sich nicht nur um anspruchsvolle literarische Werke mit ernstem Hintergrund. Es geht auch viel trivialer zu: Jesus als lächerliche Karikatur in Satire- und sonstigen Zeitschriften dürfte ganze Bücherwände füllen. Die gegenüber Christen wie Juden gleichermaßen böse Verulkung Jesu in dem Monty Python-Film "Das Leben des Brian" hat zwar Proteste hervorgerufen, doch keiner der britischen Komiker musste untertauchen, weil er mit dem Tode bedroht wurde.

 

Für den Islam gelten anscheinend andere Regeln

 

Der Film "The Day After Tomorrow" von Roland Emmerich zeigt auf drastische Weise die Folgen der Klimakatastrophe. Darin spielt ein schwarzer Obdachloser eine wichtige Nebenrolle. Er hat einen Hund – und der heißt Buddha. Man stelle sich die weltweiten Reaktionen vor, wenn der Hund Mohammed hieße!

Auch Buddha als lächerliche Figur der japanischen und koreanischen Auto- oder sonstigen Werbung ist keine Seltenheit; beleidigte Reaktionen fanatischer Buddhisten sind nicht bekannt. Dabei verehren die Buddhisten den Stifter ihrer Religion nicht weniger als die Muslime den ihren. Ähnliches gilt für die Hindus. Vor allem Shiva dient als Namensgeber für zahlreiche Tiere und als Ideengeber in der Werbung. Seine Anhänger ertragen es mit Gelassenheit.

Eine erfrischende Despektierlichkeit gegenüber religiösen Autoritäten ist hierzulande bis in höchste Kreise verbreitet – solange es nicht um den Islam geht: Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nennt ihren Hund – einen schwarzen Dackel mit weißem Hals – "Dr. Martin Luther". Ihr Personenschutz musste nach der Namensgebung nicht verschärft werden. Ein Pferd namens Mohammed sorgte dagegen im Sauerland für Empörung und Schlagzeilen.

 

Provokation ist eine Chance, keine Beleidigung

 

Provokationen gegenüber Autoritäten jeder Art sind unverzichtbar für eine lebendige Gesellschaft und Kultur. Tragen sie doch wesentlich dazu bei, eingefahrene Denkmuster zu überschreiten. Ohne Provokation kein Fortschritt. Religionen oder politische Ideologien, die Provokation nicht als Chance, sondern nur als Beleidigung empfinden, bringen auch sonst wenig Offenheit gegenüber Neuerungen mit. Dass sie stattdessen ihre – natürlich – exklusiven Wahrheiten zur Not mit brutaler Gewalt verteidigen, versteht sich von selbst.

Zurück zum Ausgangspunkt: Eines werden auch die vehementesten Verteidiger des Islam hoffentlich anerkennen: Dass es für die Anhänger Mohammeds keine Exklusivrechte geben darf, was den Schutz vor Provokationen angeht, nur weil sie sich besonders lautstark zu Wort melden. Wenn das subjektive Empfinden von Strenggläubigen zum Maßstab für Meinungsäußerungen oder künstlerische Darbietungen wird, bedeutete das eine Verödung der gesamten Gesellschaft, die noch nicht einmal diejenigen wünschen können, die meinen, es gäbe kein Recht auf Provokation.

 

Der Autor ist Publizist. Von ihm erschien zuletzt:

"Die Opferrolle. Der Islam und seine Inszenierung", 2011

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